Die Liebenden

Wir waren auf dem Flohmarkt, weil der Flohmarkt ein guter Ort ist, um einander kennenzulernen. Kennengelernt haben wir aber noch ganz andere Menschen. An einem dieser Haushaltsauflösungstische, auf denen Kartons mit alten Postkarten, Fotos und Briefen stehen, zog ich wahllos einen der alten Briefe heraus und las diesen vor. Darin stand, adressiert an eine Straße in Bremen-Walle, folgendes:

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(unleserlich), den 12. Okt. 1962

Mein liebes Büblein.

Du hast sicher schon heute auf einen Brief von mir gewartet. Leider war es mir nicht mehr möglich gestern. Abends gehen wir immer noch zur Predigt. Es gefällt mir nur mittelmäßig.
Heute hat Mama Geburtstag. Fam. (unleserlich) war schon zur Gratulation da. In ein paar Jahren wird sie schon 70 Jahre alt. Man kann es sich kaum vorstellen. Früher war eine 70jährige für mich eine alte Frau.
Ja, mein Büblein, und nun zu Dir. Du schreibst ja so verzweifelt. Wie kannst Du annehmen, daß wir dich deswegen verurteilen, wenn Dein Bruder gefehlt hat. Würdest Du mich denn umgekehrt nicht mehr ansehen, wenn einer meiner Geschwister das gewesen wär?

Übrigens weiß das doch nur unsere Mutter und ich. Und Du hast bestimmt Verständnis dafür, weil ihre Schwester früher vor der Ehe auch schon ein Kind hatte.
Aber findest Du nicht auch, daß das für uns eine Warnung sein muß. Sind die beiden denn schlechter wie wir? Doch höchstens schwächer in einem gefährlichen Augenblick.
Oft mache ich mir die schwersten Vorwürfe und dann verwünsche ich die Hand, die den kl. Kollegen berührt hat. Du hast einmal zu mir gesagt, ich sei Dein Schutzengel, das bin ich doch aber nicht, wenn ich Dich zur Sünde verführe. Ach Büblein, ich möchte weinen, wenn ich darüber nachdenke. Wir haben uns doch lieb und wollen uns doch nicht gegenseitig ins Unglück stürzen. Wenn wir aber beide nicht aufhören uns so zu lieben, wird es eines Tages der Fall sein. Dann würdest Du mir das ein Leben lang zum Vorwurf machen, wenn ich nicht die stärkere gewesen wäre, und Du hättest Recht damit.

Mädchen müssen stärker sein, weil Männer eben anders veranlagt sind. Seit Mutter mir das von den beiden erzählt hat, ist mir das so erschreckend zum Bewußtsein gekommen.
Ich habe bestimmt genau so oft seitdem an die beiden gedacht wie Du. Ich möchte nicht mehr leben, wenn uns beiden das passiert (unleserlich)
Oft falle ich auf den Knien vor die Mutter Gottes hin und bitte sie, daß sie ganz besonders auf uns beide aufpasst. Und wie oft bin ich schon sonntags zur hl. Kommunion gegangen und habe all die Gnaden für unsere Reinheit aufgeopfert. Wenn ich für mich den Segen erflehe, dann schließe ich Dich immer mit ein.

Ist das nicht schön, daß wir immer so füreinander beten. Da muss doch die hl. Mutter Gottes uns erhören.
Büblein denk doch mal in Ruhe darüber nach, aber denke nicht, es ist nicht so schlimm wie Gott das geschrieben hat. Wenn wir jetzt nicht aufhören mit dieser leidenschaftlichen Liebe, dann genügt uns das eines Tage nicht mehr, dann verlangt der Körper immer mehr, und dann ist das Unglück da.
Und ewig müßte ich mich schämen vor Deiner Mutter. Sie ist so eine feine Frau und hat soviel Vertrauen zu Dir.

So, Büblein, das war kein feiner Brief aber ich mußte Dir das sagen und es ist bestimmt so herzlich gemeint, als wenn ich Dir sage Büblein, Du bist ganz ganz lieb.

Mit vielen, vielen Küssen bleibe ich Deine kl. (unleserlich)
tschüss Büblein

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Eine Antwort zu Die Liebenden

  1. fraencko schreibt:

    Ich habe echt ein bisschen gebraucht, aber ich glaube, jetzt versteh ich, worum es geht. Hihi.

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