Jonathan Brandis

Hallo ihr Nasenstecker! (wichtig: statt normaler Anreden jetzt immer irgendwelche Alltagsgegenstände einbauen, weil „witzig“)

Das Banner rechts, von mir liebevoll „Mal der Schande“ genannt, verschwindet demnächst, will sagen, Berlin ist vorbei und ich bin zurück. War ja auch nur ein Tag. Wahrlich kurz, soviele Blogger konnten Frank, S. und ich garnicht verbal vernichten, wie wir auf Lager hätten, aber die wichtigsten haben wir abgekaspert und festgestellt, dass wir uns da meistens einig sind, wie schlimm das eigentlich alles ist. Überhaupt waren wir uns in vielem einig. Fast schon unheimlich. War aber eine Grundlage, um auch die Lesung durchzuziehen, die sehr gut war. Abgesehen von der Technik und der Ignoranz lauter Menschen, es waren ja tatsächlich lauter Menschen, die da immer zwischenbrüllten.
Aber gut, mir egal, weil: war ja erster, da herrschte noch Ruhe, sogar an den Stellen, an denen Lacher und Applaus angebracht gewesen wären. So fesselnd war das *eigensuggestier*
Zuhälter des Abends: Der Vergrämer, der mit seiner Hand Mikros zugehalten und uns so vor kosmischer Krebshandystrahlung beschützt hat. Außerdem hat er das ganze Geld kassiert, man sieht, genialer Wortwitz.

Die Stunden danach waren geprägt von Bier verschiedener Regionen, schlechtem Caipirinha, McDonalds, einem vergessenen Rucksack und leider hat auch „Petrus seine Schleusen geöffnet“.
Anderntags waren wir konsequenterweise zu nichts in der Lage außer einem Little Britain-Marathon und bisschen Rumgezocke. Der Kopf! Zum Bahnhof haben wir es doch noch geschafft, an dem ich ein Wiedersehen mit den Buddy-Bären gefeiert habe, um dann Frank adieu zu sagen, halt auf deutsch (wiedersehen).

Und das war mein schönstes Ferienerlebnis!

Der Text, den ich da vorgelesen habe, erschien in gänzlich anderer Fassung schon früher, ist hier aber der Vollständigkeit halber noch einmal.

*****

St. Peter Ording

Die Idee, am Samstagabend nach St. Peter Ording zu fahren, gebar sich aus der allwochenendlichen Trostlosigkeit, in die uns Neustadt in Holstein mittlerweile hüllte. Im arschkalten Herbst 2003 war mir und Matthias nicht zum Lachen zu Mute. Der Bund hatte uns im Sommer gekrallt und wir zwei Zivilversager haben uns natürlich keine Sekunde damit befasst, mal einen Verweigerungsantrag zu stellen, obwohl wir auf diesen Quatsch natürlich ebensowenig Bock hatten wie jeder andere Mensch mit nur ein wenig Selbstwertgefühl. Nun waren wir aber nun einmal dort und hatten nur die Wochenenden als Ausbruchmöglichkeit aus dieser lähmenden, stupiden Tristesse. Und hier bot uns Neustadt eben nicht viel mehr als einen schmutzigen Strand und die ewige graue Weite der Ostsee. Inwiefern uns die Nordsee hier einen Mehrwert bieten sollte, wussten wir auch nicht so recht, allein die wage Hoffnung auf hohe Wellen und endlos weiter Strände, eher aber wohl der einfache Gedanke an die Fahrt dorthin war es, der uns trieb. Die Illusion der grauen Unendlichkeit würde wohl getauscht gegen die braune des Watts, was nicht unbedingt für den Ausflug sprach.

Und wessen Idee war das jetzt eigentlich schon wieder? Wahrscheinlich Pepes, wobei dessen Drang, abzuhauen, von unser allen noch der nachvollziehbarste war. Pepe war unsere regelmäßige Anlaufstation, bei ihm verbrachten Matthias und ich, die wir ja eigentlich Lübecker waren, unsere karge Freizeit, warum, habe nie so ganz verstanden, das hat sich halt so ergeben, das war so Brauch. Pepe jedenfalls kriegte sein Leben noch schlechter auf die Reihe als wir, und hier war nicht einmal er schuld, sondern einzig die äußeren Umstände, vulgo Eltern, Schule, Arbeitsamt. Pepe, das muss man vielleicht erklären, war nicht gut auf die Gesellschaft zu sprechen. Das Schicksal versuchte deswegen ständig, ihn dieser durch Unfälle zu entreissen, was jedoch nicht fruchtete. Er sprang von einem 2 Meter hohen Steg ins Wasser und jemand warf ein volles Bierfaß hinterher, das auf seinem Kopf landete. Am nächsten morgen verschwand er mit der kurzen Bemerkung „keine Krankenversicherung“ aus dem Krankenhaus und kurierte seine Gehirnerschütterung zu Hause aus. Derlei Geschichten gab es zuhauf, weswegen wir ihn auch „Unbreakable“ nannten, nach dem garnicht üblen Film mit Bruce Willis.

Es klingelte an Pepes Haustür und herein kam Matjes. Matjes war halt Matjes, da kann man garnicht viel drüber erzählen, er war eben dabei und außerdem der wahrscheinlich eingebildetste Mensch östlich des Mississippi, ein Wort nebenbei, welches ich laut Windows-Autokorrektur gleich beim ersten mal richtig geschrieben habe. Es folgte traditionell der Streit, ob wir Tauer, das alte Arschloch, auch mitnehmen sollten. Ja, was soll’s, er war eben ein Schwachkopf, aber in seiner Art durchaus unterhaltsam. Wir fuhren zu seinen Eltern, die unfassbar reich waren, dies auch sehr gerne zeigten, aber ein Riesengeheimnis daraus machten, dass ihre Ehe ein Wrack war. Nichts mehr zu machen, finito. Und mittendrin eben Tauer, das verwöhnte Einzelkind, zu unserem Verdruss seit ein paar Jahren sehr gut aussehend und mit Schlag mit bei den Touristentöchtern, die jedes Jahr wie Heuschrecken in den ansonsten gottverlassenen Ort einfielen. Man musste ihn sich ungefähr so vorstellen wie Stiffler aus American Pie, ja, hier reiht sich Filmreferenz an Filmreferenz, na und? Gemeinsamer Nenner und so.

Tauer, das pansexuelle Wesen. Er fühlte sich durch alles angezogen, was lebte, so hofften wir jedenfalls, und wir wussten, eines Tage würde etwas geschehen, das uns alle in den Knast brachte. Vielleicht kamen wir ja heute noch einmal davon.
Es war eine tieftraurige Szene, die wir da betraten. Bei Kaffee und Maulwurfkuchen saßen sie beisammen, Tauer und seine Eltern, im Hintergrund lief ein Hitmix. Auch ein Zeugnis deutscher Ingenieurskunst: 60 Minuten-Hitmixe im Gleichtakt. So etwas kriegen nur die Deutschen hin. Wir befreiten ihn aus dieser misslichen Lage und machten uns auf den Weg. Es hieß, nur 3 Tagesmärsche von hier gäbe es eine Leiche zu sehen, einen Jungen, der von einem Zug, NEIN!, Schluss jetzt mit den Filmen.

Es konnte losgehen. Da waren Matthias, Pepe, Matjes, Tauer und also ich, Sachse. Das war natürlich relativ einfallslos, Sachse war ja bloß mein Nachname, aber so nannte man mich immer, ebenso meinen Bruder, meinen Vater und meines Vaters Vater, eine alte Tradition, denn der Name Sachse hatte im Ländlichen durchaus Gewicht (alte Floristendynastie).

Pepe mahnte folgendes an: „Da müssen wir jetzt aber erst noch durchquatschen, wer fährt. Ich fahre grade jede Woche, ich will auch mal saufen.“ – „Ja, und ich bin beim Bund“, merkte Matze an, „wenigstens am Wochenende will ich Spaß haben.“ „Sachse, wann machst Du eigentlich deinen Führerschein? Sollen wir vielleicht zusammenlegen“, sagten alle, so wie jede Woche, und fanden es auch dieses mal sehr witzig.
Auf so etwas wie den Führerschein hatte ich mal überhaupt keine Lust, und am Ende würde es eh so laufen, dass ich dann immer fahren müsste, weil ich ja von Natur kein großer Trinker oder Kiffer war. Aber ich genoss es einfach zu sehr, hinten im Auto zu sitzen, größtenteils ruhig zu sein und das Leben der Anderen an mir vorbeirauschen zu lassen. Daraus zog ich ja überhaupt meine Energie, im Aufnehmen des Lebens anderer Menschen. Als stiller Beobachter, der die Klappe hält und lacht, wenn es nötig war. Warum Matjes genaugenommen nie gefahren ist, weiss ich garnicht, es lief jedenfalls darauf hinaus, dass Matthias fahren musste. Und nachdem wir uns mit einer Kiste Oettinger, dem Billigbier unserer Wahl, mmh, Oettiner, und einigen Eiern, Gott wusste, wozu, eingedeckt hatten, waren wir auch schon auf dem Weg nach Lübeck, um dann über Kiel Richtung Westen zu schwenken um dann irgendwann in St. Peter Ording anzukommen.

Um uns in eine Stimmung zu bringen, die mittels des Alkohols dann katalysiert werden sollte, legten wir flotte Musik ein. Man merkt, in der Metaebene des Textes geht es um Rituale und Traditionen, denn es folgt eine weitere: Ein Brauch war es, in der Lübecker Innenstadt die Fenster runterzukurbeln, den CD-Player voll aufzudrehen und „Mr. Hankey, the Christmas Poo“, den unvergessenen Weihnachtssong aus Southpark, zu spielen. Ein äußerst pubertärer Spaß, aber wir waren ja auch erst 22 Jahre alt.

Und so ging es dann auch erst einmal weiter, schlechte Musik möglichst laut, dazu Bier, die inzwischen in Dunkelheit gehüllte Autobahn Richtung Kiel und die Feststellung, dass es im Auto irgendwie nach verschmortem Gummi roch. Egal!

Kiel, die vielleicht hässlichste Stadt Norddeutschlands. TV-Tipp am Rande: Die Dokumentation „Youth Wars – Beobachtungen in der deutschen Provinz“ bietet grandiose Innenansichten Kieler Jugendbanden Anfang der 90er und ist komplett auf youtube verfügbar.

In einem Hinterhof in Kiel erleichterten wir unsere Blasen und stießen auf Gold, bzw. einen riesigen Haufen Elektroschrott. Monitore, Tastaturen, PC-Türme und allerlei mehr warteten nur darauf, von uns mitgenommen zu werden. Das hatte überhaupt keinen Sinn, dem Besitzer war es wahrscheinlich auch egal, warum taten wir es also? Weil wir es konnten. Weil wir es nicht gewohnt waren, soviel ehemaligen Reichtum angehäuft zu sehen (außer vielleicht Tauer).

Das war jetzt wieder ganz großer Quatsch, den Wagen mit solchem Gerümpel vollzustopfen, und es nahm auch irgendwie kein Ende. Irgendwann waren wir schon längst auf der Landstraße, der Nissan stieß mit uns durch die Dunkelheit der weiten, leeren Felder und alle 10 Sekunden blinkte es gelb aus dem Innenraum hinaus. Neben dem Computerzeug, einem Begrenzungspfahl und einem Stück Zaun hatte es mittlerweile auch eine Baustellenlampe zu uns geschafft, die wir aus reiner Freude anließen. Eine Baustellenlampe stellt man mit Hilfe eines kleinen Stocks oder Stabes, den man in eine kleine Öffnung steckt, an und aus, das weiß man (Kindheit).

Das Blinken konterkarierte die ernste Debatte, in der wir uns befanden, als wir Heide passierten: „Das ist doch alles scheisse“, seufzte Matthias, „man geht da hin, dann geben die einem einen Stempel, und beide wissen, man kriegt den Job eh nicht. Ich habe ja auch keinen Anzug, und die wollen immer Anzug.“ „Stimmt gar nicht“, wusste Matjes auch mal was beizusteuern, „ich hab‘ da so einen Ratgeber, da steht das drin: Eine saubere Jeans und ein gebügeltes T-Shirt reichen in der Regel aus. Jogging-Hose und Turnschuhe sind zu vermeiden!“ „Ja, und früher stand drin“, warf ich ein, „man soll sich einen schönen Anzug kaufen, auf keinen Fall soll man in Jeans & T-Shirt erscheinen! Auf dieses Jeans & T-Shirt schießen die sich alle ein, woher kommt diese Wortkombo überhaupt, aber ob das nun okay ist oder nicht, darüber streitet sich die Fachwelt wohl doch noch. Und jetzt soll das Anzug sein oder wie? Woran sieht man das überhaupt, ob teuer oder billig, ist doch alles das gleiche. Wer billige Anzüge von teuren unterscheiden kann, ist moralisch sowieso verloren!“, beendete ich die Diskussion und war ein wenig stolz auf mich, das war ganz gut: Moralisch verloren. Überhaupt: solche Menschen sind auf eine Stufe zu stellen mit Kindersekt und dem Typen, der das lachschon.de-Logo auf diverse „witzige“ Fotos pappt. Ekelhaft.
Die Zukunft war für uns alle schon geschrieben, und sie war düster, wenn wir sonst nicht wussten, das wussten wir. Auch für mich hätte es besser laufen können, wäre im Biologieunterricht der fünften Klasse nicht die Sexualkunde dran gewesen, sondern Dinosaurier, insbesondere die carnivoren.

System of a down war furchtbarer Lärm, für den die anderen etwas übrig hatten, da musste ich jetzt durch, aber ich ging in die innere Migration und ließ die Landschaft vorüberziehen. Es wirkte jedesmal düster und unheimlich, wenn man sich vom Licht abwandte und aus dem Rückfenster schaute, wo man überhaupt nichts mehr sah außer die Schatten der Bäume, die verschwanden. Diese Menschenleere, hier gab es wahrscheinlich sehr viele Rehe und Wildschweine, ein Gedanke, der mir im Suff zu schaffen machte: Die Existenz von Tieren allgemein, Tiere sind eine Art Parallelgesellschaft, wie gerne möchte man die Denkweise von Füchsen nachvollziehen können, denken Füchse überhaupt? Eine starke Melancholie erfasste mich. Mitten in diesem Lärm, diesem Spaß, dieser Party auf vier Rädern mit Diskobeleuchtung vom Baumarkt wünschte ich mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als ein Fuchs auf einem Acker der Nacht zu sein, der sich höchstens wunderte, was da lautes ist, das da an ihm vorüberzieht, bevor er sich wieder dem Sternenhimmel widmet, den er kannte und den er mochte.

Die Landschaft veränderte sich allmählich und die für die Nordsee typischen Gräser, die man von den Dünen kennt, nahmen überhand. Es war eindeutig, wir würden bald da sein. Ein Schild gab uns Gewissheit, es zeigte an, dass Kiel bereits 110 Kilometer hinter uns lag und St. Peter Ording nur noch 13 vor uns. Und zu unser aller Amüsemang gab es 3 Kilometer von hier einen Ort, der einfach „Welt“ hieß. Es gab also mindestens 3 Welten: Die, in der wir nicht zurechtkamen, die, in die wir uns flüchteten und ein Pissdorf irgendwo an der Nordsee, das sich in seiner Arroganz ebenso nannte. Wahrscheinlich bewohnt von alten Menschen, die sich ihre Pullover um die Schultern banden, um dann, laizze faire, barfuß am Strand zu spazieren. Es gab sicher Polohemden zu kaufen, die bereits einen Pullover umgebunden hatten, es war nämlich keineswegs einfach eine praktische Methode, das Kleidungsstück mit sich rumzutragen, sondern offizieller Dresscode des Kapitals. Auch Hans-Olaf Henkel trug auf dem Cover eines seiner Bücher eben diesen Look, von dem er wohl annahm, gleichzeitig arbeitsam und locker zu sein.

„Nordseeschnösel!“ blökten wir, die wir aus den durchaus existenten armen Gegenden der Ostseeregion kamen, an der Nordsee gab es generell so wenig Häuser, das nicht anzunehmen war, dass man sich hier noch arme Leute hielt. Ein mit Reetdach überdecktes Reservat des Geldes war das, und genau deswegen hatte Pepe auch Eier gekauft: Er wollte es den Bonzen hier mal so richtig zeigen. Wir fuhren in einen Ort ein, der St. Peter Ording sein konnte, so sicher waren wir uns aber nicht, und Pepe, der inzwischen völlig besoffen war, versuchte, die Eier aus dem Handschuhfach zu holen, um sie gegen die Türen irgendwelcher Familien zu werfen, deren Oberhäupter sicher in Waffenkonzernen arbeiteten oder zumindest als Personalreferenten in Pharmafirmen, ich gebe zu, wir steigerten uns da in etwas hinein. Das hat leider nicht so geklappt, wie er sich das dachte, und aufgrund seiner mangelnden Koordinationsfähigkeiten gingen sämtliche Eier bereits zwischen Handschuhfach und Hosenbein, eher Richtung Hosenbein, zu Bruch. Wir lachten ihn protokollgemäß aus, aber Pepe wollte da nicht mitmachen. Folgender Satz fand Einzug in den Verarschungswortschatz: „Mir reicht’s… jaja, ihr könnt das alle besser als wie ich“. Mit diesen Worten sprang er aus dem Auto in ein Gebüsch und wir verloren ihn aus den Augen. Wir beschlossen, erst einmal eine Runde durch den Ort zu fahren und ihn später wieder einzusammeln.

„Wie machen wir das eigentlich mit Benzingeld?“ – „Jeder 20 würde ich sagen.“ – „Ja, ist okay. Hoffentlich hält der Wagen noch durch, der stinkt schon die ganze Zeit wie Gummi.“ – „Ja, ich weiss auch nicht. Wird schon.“

Es war mittlerweile der dritte Wagen, das wäre ja gelacht. Das erste Auto versenkte Pepe mit 2 Freunden in einem 2 Meter tiefen Graben im Wald (Unbreakable), den zweiten setzte Pepe mit mir und Matthias letzten Winter bei Glatteis gegen einen Baum, für dessen Existenz wir zutiefst dankbar waren, denn hinter dem Baum befand sich ein zugefrorener See. Noch heute höre ich das Geschrei der Frau auf der anderen Straßenseite, als wir dem See entgegenschlitterten. Noch heute!

Eine Viertelstunde später passierten wir die Straße, auf der wir Pepe zuletzt gesehen hatten, als Matthias eine Vollbremsung machte. Vor ihm lag Pepe quer auf der Fahrbahn und schlief. Bei dem war die Luft wohl raus für heute, aber nichts konnte uns davon abhalten, wenigstens noch an den Strand zu fahren. Wir sammelten ihn ein und fuhren raus aus diesem unheimlichen Ort.

Schilf. Ein riesiges Schilffeld lag neben der Straße, von der es nur noch wenige hundert Meter bis zu Strand waren. Es kam heraus, dass wir alle schon seit Kindertagen davon träumten, mal in einem Schilffeld herumzurennen. Hellwach und klar von der kalten Nordseeluft, sogar Pepe, rannten wir los. Wir rannten rein in das Schilffeld, wir lachten, wir staunten, wie hoch es war, ärgerten uns ein wenig über einen alten Fußball, der hier lag. Wir rannten rein, um zu entkommen, der natürlichste Ort der Welt und selbst hier fanden wir noch Spuren von Zivilisation, bzw. eben Fußball. Wir rannten noch viel weiter und merkten nicht, dass wir irgendwann knöcheltief im Wasser standen. Uns wurde ein wenig mulmig. Wie weit waren wir schon weg, wo genau waren wir jetzt, und wie kamen wir zurück? Wir blickten alle nach oben, als ob wir aus den Sternen am klaren Himmel schlau würden.

200 Jahre später. Die Kinder einer Klassenfahrt, die in einer Hütte nahe St. Peter Ording übernachten, sind auf einer Nachtwanderung. Die halbdänische Hüttenbesitzerin erzählt die Gruselgeschichte von 5 jungen Männern, die sich vor 200 Jahren in diesem Schilffeld, neben dem die Kinder jetzt stehen, verirrten. Man fand am nächsten Tag nur ein leeres Auto voller Bierflaschen, Tastatur und Monitor, ein Begrenzungspfahl, ein Stück Zaun und eine blinkende Baustellenlampe. Seitdem hört man in klaren Herbstnächten das klagende Geschrei der Männer, die versuchen, aus dem Schilf zu finden. Menschen, die von den Hilferufen gelockt wurden, sah man danach nie wieder.

Aber so kam es nicht. Wir fanden natürlich auf lächerlich einfache Weise zurück zum Auto, wir hatten schließlich genug Schilf kaputt getrampelt, an dem wir uns orientieren konnten. Jetzt gab es nur noch eines zu tun:

Mit Vollgas fuhren wir Richtung Strand, wir fuhren über den Sand Richtung Wasser und durchpflügten das Wattenmeer. Das Gefühl völliger Freiheit durchströmte uns und in diesem Augenblick waren wir uns sicher, unbesiegbar zu sein. Wir schalteten die Scheinwerfer aus und fuhren einfach drauf los, in der Gewissheit, dass nichts und niemand uns in die Quere kommen würde. Bei einem besonders gewagten Wendemanöver jedoch drehten die Reifen zu stark durch und versanken im Sand. Wir steckten fest. Die Heizung wärmte den Wagen und ermüdete uns, also beschlossen wir, erst einmal eine Runde zu schlafen, bis wir den Wagen rausschoben.

6 Jahre später. Vor der somalischen Küste macht der erste Wachoffizier der Fregatte Mecklenburg-Vorpommern eine erstaunliche Entdeckung. Zunächst hält er das Objekt wenige hundert Meter vom Schiff entfernt für eine gelb blinkende Boje oder ein Boot, das somalische Piraten nutzen, um unschuldige Besatzungen von Öltankern aufzubringen, die ihren Giftmüll vor der ehemals mit reichlich Fischen gesegneten Küste verklappen, oder Trawler westeuropäischer Großfischereien zu beschießen, die ihnen ihre Lebensgrundlage rauben, stellt bei näherer Betrachtung aber fest, dass es sich um einen Nissan handelt, der auf sie zutreibt und mit 5 fast vollständig abgenagten Skeletten besetzt ist. Offensichtlich hatte er das Rätsel der „Reifenspuren von St. Peter Ording“ gelöst, die ihrerzeit für einige Furore in der Lokalpresse gesorgt hatten, da man sich fragte, warum sich Menschen in ein Auto setzten und von der Flut ins offene Meer tragen ließen.

Aber auch so sollte es nicht sein. Wir wachten rechtzeitig auf und alle bis auf Matthias, der vorne saß und Vollgas gab, schoben von hinten an. Zu unserer Erleichterung gelang es uns relativ einfach, den Nissan zu befreien, aber wie es so ist mit befreiten Wildtieren, oft sterben sie früh. Es stank unfassbar nach Gummi und als wir wenige Meter gefahren waren und Matthias in den zweiten Gang schalten wollte, schlackerte der Schaltknüppel nur locker hin- und her. Das Getriebe ging den Weg alles Irdischen und wir waren gestrandet. Ich hielt mich zurück mit meiner Feststellung, dass das Wort „gestrandet“ an dieser Stelle wenigstens einmal passend war, auch an Flugterminals bankrotter Billigairlines spricht man ja von „gestrandeten Urlaubern“.

„Das ist doch eine Scheisse!“ rief Pepe und war fassungslos, mit welcher Konsequenz das Schicksal dafür sorgte, ihm jedes Jahr ein Auto zu nehmen. Es war aber auch bemerkenswert. Ich musste fast lachen, ich musste sowieso fast immer lachen in solchen Situationen, das war in mir drin, es war nicht schön, aber so etwas sucht man sich ja nicht aus.
„Ja, was machen wir denn jetzt?“ – „Weiss ich doch auch nicht…. warte mal.“ Matthias dachte nach. „Ich bin doch Mitglied in diesem Club.“ Er war Mitglied bei einer Konkurrenz des ADAC, dessen Namen ich davor und danach nie wieder gehört habe. „Ich ruf da mal an“, sagte er.

Eine bitterkalte Stunde später tauchte ein Abschleppwagen einer örtlichen Werkstatt auf und bot uns an, uns bis nach Husum zu schleppen, was streng genommen nicht viel Sinn ergab, aber die Alternative war, hier stehen zu bleiben. Und Husum, das hatte man wenigstens schon einmal gehört.

Es war mittlerweile hell geworden und jegliches Gefühl der Freiheit war ersetzt durch physische Kälte und der Müdigkeit, die eine Nacht wie diese mit sich brachte. Irgendwo standen wir in Husum und versuchten ein paar Stunden zu schlafen, während wir jede halbe Stunde kurz den Motor laufen ließen und den Wagen heizten. Es gelang mir tatsächlich, 3 Stunden am Stück zu schlafen, als ich aufwachte und mir ein Engel erschien. Es war Matjes, er war beim Bäcker gewesen und brachte warme Brötchen und einen Kakao, den wir uns teilen mussten, und es war die beste Mahlzeit, die ich je zu mir nahm. Hin und wieder wurden wir von Einheimischen argwöhnisch beäugt, die ein solches Spektakel (fremdes Auto) nicht gewohnt waren. Wir äugten zurück und langsam kamen wir zu dem Schluss, dass es wohl Zeit sei, nach Hause zu fahren.

Und dennoch, wir wussten nicht, was wir machen sollten.
Es war schon 11, als wir es nicht mehr länger hinauszögern konnten: Tauer musste seinen Vater anrufen, auf dass er käme und uns mit seinem BMW abholte. Es war nicht ganz einfach, Tauers Vater davon zu überzeugen, dass wir uns an der Nordsee befanden und hier feststeckten. 4 Stunden später war er aber da und fast wortlos bedeutete er Pepe, Tauer, Matjes und mir, in seinen Wagen zu steigen. Matthias stand die Aufgabe bevor, die nächsten Stunden im hinteren Auto zu sitzen und ohne Bremskfraftverstärker oder Servolenkung dafür zu sorgen, nicht auf den Vordermann zu knallen und das Seil gespannt zu halten. Ein 5 Stunden dauerndes seelischer und körperliches Martyrium, von dem wir nichts ahnten.

Wir ließen die weiten, überschwemmten Felder der Nordseeregion hinter uns und mir wurde bewusst, dass wir langsam zu alt für diese Dinge wurden. Diese Dinge, die ein Scharnier darstellen zwischen jugendlicher Blödelei und dem Drang, von all dem abzuhauen. Wir zogen diese Phase schon viel zu sehr in die Länge, langsam wurde es peinlich. Aber die Angst vor dem, was hinter dem fernen Horizont der Unbekümmertheit auf uns wartete, machte es uns unmöglich, erwachsen zu werden. Man muss loslassen können, aber man muss ja nicht wollen.
Ich verließ diesen Gedanken und sah, dass die anderen schliefen. Lächelnd schaute ich aus dem Fenster und fragte mich, wie sie das schon wieder machten.

*****

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9 Antworten zu Jonathan Brandis

  1. Muriel schreibt:

    Mensch, du alter Kronkorken (War das gut so?),

    ich fand meine Bundeswehrzeit ja irgendwie ganz nett. Sagt das was Schlechtes über mich, was Gutes über die anderen Soldaten an meinem Standort, oder vielleicht einfach gar nichts aus?
    Besonders in Erinnerung bleiben wird mir immer die Weihnachtswochen, in der ich Shining-mäßig völlig alleine die Inspektion bemannte, dabei ein ziemlich gutes Buch las und ab und zu in die Küche trottete, um einen Tee zu kochen und Kekse aus dem großen Plastikeimer mit der Edding-Aufschrift „Für meine Kameraden nur das Billigste!“ zu mopsen.

  2. Pingback: Wortspielhölle - Citronengras

  3. Dennis schreibt:

    Von dieser jour fitz kommt irgendwie viel weniger als von der letzten.

    Was ich dazu sagen möchte: Bin erleichtert, das du der erste warst. Hättest aber sehr viel bessere Texte in petto gehabt.

    Erinnert mich an das kleine Arschloch, welches Nazi-Lieder in türkischer Disco singt…

    Irgendwann wird irgendwer dein Talent zu nutzen wissen!

    Gruss

  4. Sebastian schreibt:

    Die letzte war die erste, da gab es natürlich bisschen mehr Rummel. Aber es war ja sehr gut besucht und das meiste lief über Twitter. Da war das wirklich Thema. Merkwürdig war natürlich, dass man sich dort mit den Nicknames ansprach.

    Du glaubst nicht, wie lange ich gehadert habe, ob ich wirklich das hier lesen soll. Mir gefiel einfach die Grundkonstellation der Geschichte, weil sie einen linearen Verlauf hat, und da habe ich dann versucht ein paar Dinge einzubauen, die mir gerade auf dem Herzen lagen. Aber davon war dann doch zu wenig.
    Ich habe noch irgendwo meinen Ursprungtext, der ein zusammenhangloser Rant gegen alles und jeden war, den muss ich auch nochmal posten irgendwann.

    Was mir im Nachhinein nicht so gefallen hat daran war, dass mein Text nicht unbedingt auf Witz und Pointe gebürstet war, das wäre aber glaube ich ganz gut gewesen. Die anderen Leser waren in der Beziehung richtig gut.

    Tja, ICH weiss doch mein Talent zu nutzen, indem ich es hier niederschreibe. Für lau!

  5. Alberto Green schreibt:

    ich kann mich noch erinnern, wie ich an einem lauen sommertag 2006 erfuhr, dass jonathan brandis schon seit fast drei jahren tot war.
    das war der gleiche abend, an dem ich erfuhr, wer jonathan brandis war.

  6. Sebastian schreibt:

    Lieber gekannt und verloren, als nie gekannt.

  7. juf schreibt:

    Ich habe nicht das ganze Geld behalten. Nur Deinen Anteil. Den investiere ich in noch schlechtere Technik. Viele Leute waren dankbar, dass sie Dich nicht verstanden haben.

  8. Sebastian schreibt:

    Das kann garnicht sein, bei uns hinten hat man die Leute an der Bar schließlich auch verstanden.

  9. Pingback: Pepe – Risikobiographie | social issues and stuff

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